Spread Your Wings  


Wir sind gefangen von Gewohnheiten, Umstän- den, Systemen, negativen Gedanken, unserem Unglauben... Oder lassen wir uns nur gefangen nehmen? Ist es nicht vielmehr so, dass wir uns endlich trauen sollten, in Richtung Sonne zu blicken, unser Herz, unsere Leidenschaft (wieder) zu entdecken? Unsere Flügel auszu- breiten, damit der Wind uns zu neuen Höhen tragen kann?

Sicher ist es nicht einfach, aus dem Gewohnten auszubrechen. Das kostet zunächst viel Mut – und Vertrauen. Und natürlich gibt es Umstän- de, an denen wir nichts ändern können. Aber ist es besser, deswegen in Gefangenschaft zu verharren? Sind wir denn zum Hühnerhof berufen?

Nein! Denn jeder Mensch hat einzigartige Fähig- keiten und Begabungen geschenkt bekommen, die nicht zum Verkümmern bestimmt sind.

Machen wir uns also auf, tun wir den ersten Schritt: Blicken wir in die Sonne, lassen wir uns nicht gefangen nehmen - von was auch immer -, breiten wir die Flügel aus, die wir haben, und verlieren wir nicht den Blick auf die Sonne!

  Ein Mann ging in einen Wald, um nach einem Vogel zu suchen, den er mit nach Hause nehmen konnte. Er fing einen jungen Adler, brachte ihn heim und steckte ihn in den Hühnerhof zu den Hennen, Enten und Truthühnern. Und er gab ihm Hühnerfutter zu fressen, obwohl er ein Adler war, der König der Lüfte.

Nach fünf Jahren erhielt der Mann den Besuch eines naturkundigen Mannes. Und als sie miteinander durch den Garten gingen, sagte der: „Dieser Vogel dort ist kein Huhn, er ist ein Adler.“ „Ja“, sagte der Mann, „das stimmt. Aber ich habe ihn zu einem Huhn erzogen. Er ist jetzt kein Adler mehr, sondern ein Huhn, auch wenn seine Flügel drei Meter breit sind.“

„Nein“, sagte der andere. „Er ist noch immer ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers. Und das wird ihn hoch hinauffliegen lassen in die Lüfte.“

„Nein, nein“, sagte der Mann, „er ist jetzt ein richtiges Huhn und wird niemals fliegen.“

Darauf beschlossen sie, eine Probe zu machen. Der naturkundige Mann nahm den Adler, hob ihn in die Höhe und sagte beschwörend: „Der du ein Adler bist, der du dem Himmel gehörst und nicht dieser Erde: breite deine Schwingen aus und fliege!“

Der Adler saß auf der hochgereckten Faust und blickte um sich. Hinter sich sah er die Hühner nach ihren Körnern picken, und er sprang zu ihnen hinunter.

Der Mann sagte: „Ich habe dir gesagt, es ist ein Huhn!“ „Nein“, sagte der andere, „es ist ein Adler. Ich versuche es morgen noch einmal“.

Am anderen Tag stieg er mit dem Adler auf das Dach des Hauses, hob ihn empor und sagte: “Adler, breite deine Schwingen aus und fliege!“ Aber als der Adler wieder die scharrenden Hühner im Hof erblickte, sprang er abermals zu ihnen hinunter und scharrte mit ihnen.

Da sagte der Mann wieder: „Ich habe dir gesagt, es ist ein Huhn.“ „Nein“, sagte der andere, „er ist ein Adler und hat das Herz eines Adlers. Lass es uns noch ein einziges Mal versuchen.“

Am nächsten Morgen erhob er sich früh, nahm den Adler und brachte ihn hinaus aus der Stadt, weit weg von den Häusern, an den Fuss eines hohen Berges. Die Sonne stieg gerade auf, sie vergoldete den Gipfel des Berges, jede Zinne erstrahlte in der Freude eines wundervollen Morgens.

Er hob den Adler hoch und sagte zu ihm: „Adler, du bist ein Adler. Breite deine Schwingen aus und fliege!“ Der Adler blickte umher, zitterte, als erfülle ihn neues Leben – aber er flog nicht. Da ließ ihn der naturkundige Mann direkt in die Sonne schauen. Und plötzlich breitete er seine gewaltigen Flügel aus, erhob sich mit dem Schrei eines Adlers, flog höher und höher und kehrte nie wieder zurück.

Eine Fabel aus Ghana. Quelle: Axel Kühner, Hoffen wir das Beste – Ermutigungen für jeden Tag (Aussaat: 2005)


           Letzte Änderung: 04. Februar 2010       Seitenanfang